Manfred Reinelt

BESUCH IN PATSCHKAU

Ein Bericht für Verwandte und Freunde

Als nähme ich wieder Abschied von dem, wovon ich mich längst verabschiedet hab.

Anna Achmatowa

Dem Andenken meiner Eltern


 

 

 

Ankunft

Dieser Ort oder diese Mauer sind, vielleicht, nicht mit dem identisch, was sie neulich waren.

Paul Valery

Am Samstag, dem 11. Mai 1991, fünfundvierzig Jahre nach der Vertreibung, kam ich nach Patschkau zurück. Der Himmel war grau, aber es regnete nicht. Es war kühl.

Unterwegs hatte mich der Gedanke überrascht, daß die Heimatstadt nur eine gute Tagesfahrt von München entfernt ist. Von dort war ich über Eisenstein, Pilsen, Königgrätz und Nachod zum Grenzübergang bei Bad Kudowa gefahren. Die Erledi­gung der Paßformalitäten dauerte fast eine Stunde. Auf der kurvenreichen Straße des Berglandes endlich an Glatz vorbeifahrend, sah ich hinter Reichenstein den er­sten Wegweiser. Nach neun Kilometern kennzeichnete das Ortsschild Paczkow den Übergang vom Dorf Karnitz in den Patschkauer Vorort Charlottental.

Jetzt begannen sich die Blicke mit Erinnerungen zu verknüpfen, der Josefinenhof und Schneiders Fabrik zur Linken, der Hof der Familie Morawietz und das Scheithauersche Grundstück zur Rechten, bis sich vor meinem Blick auf einmal, schemenhaft noch, ein Bild zusammensetzte, das zugleich vertraut und fremd war. Wie in ein Traumgefüge glitt der Wagen in den innigen Raum der Kindheit. Das Gedächtnis orientierte sich an Umrissen, an Fassaden, an der Straßenfront eines langgestreckten Anwesens, das sacht bergan stieg. Ich sah das Grundstück meiner Familie. Eine alte Sehnsucht hatte ihr Ziel erreicht.

Ich hielt vor dem Haus, das einst der Gelbe Löwe war, und stieg aus. Als ob ich, Jäger oder Wild, auf eine Lichtung getreten wäre, sicherte ich nach allen Seiten. Dort war der Glatzer Torturm, uralt und alterslos, das Obertor der Stadtmauer, da drüben das Gymnasium, das Gehäuse meiner drei Schuljahre, hier der Goldene Becher, an dessen Bewohner ich mich nicht erinnerte. Aber der Franke Hans war im Gedächtnis geblieben, der in dem Haus schräg gegenüber wohnte, wo die Krä­mer Knosalla und Pietsch im Kellergewölbe Kolonialwaren verkauften. Das Haus ist verschwunden. Ich ging über die Straßenkreuzung und setzte mich auf eine Bank.

Angespannt, wie erstarrt saß ich da, nur meine Augen bewegten sich. Der Blick streifte über die Fassaden des Bürohauses der Landwirtschaftlichen Genossenschaft, der Gastwirtschaft Gelber Löwe und der Reichsäle, des Kaisersaales meines Groß­vaters. Die Einfahrt zwischen Bürohaus und Gastwirtschaft versperrte eine hohe, graue Blechwand, ein Blick in den Hof war nicht möglich. Hier konnte ich das Grundstück nicht betreten. Die Gebäude wirkten heruntergekommen, dürftige Reklame auf einem Türschild und drei Fenstereinsätzen des Gelben Löwen und auf den Seitenwänden des Bürohauses verstärkten den Eindruck von Verunstaltung. Das Wort Meble (Möbel) stach hervor. Das einst stattliche Anwesen war armselig und


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häßlich. Diesen Anblick konnten nicht nur der schmutzige Braunton des Gelben Löwen und des Kaisersaales und das fahle Grün des Bürohauses hervorrufen, etwas Wesentliches mußte fehlen, das den Gebäuden Rang und Reiz verliehen hatte. Jetzt erst, nach dem Vergleich alter und neuer Bilder, kann ich eine Antwort ge­ben. Die barocken Fassadenelemente des Gelben Löwen und des Kaisersaales, Säu­lenvorsätze und Giebelbögen, sind verschwunden, nur das schmucklose Gehäuse ist geblieben. Die architektonische Gliederung der Fassadenflucht ist verlorengegangen.

Ich verließ die Bank und ging auf dem linken Gehsteig die Zollstraße hinauf. Da erschien zur Rechten über dem kleinen Erdvorsprung zwischen Kaisersaal und dem Weg, der in die Feldmark führt, auf hoher weißer Rundsäule mit blauem Kapitell die Madonna von Fatima, eine Figur ganz in Weiß. Das war neu. Da hatte die polnische Verehrung der Gottesmutter an prominenter Stelle einen frommen Akzent gesetzt.

Hier wucherte einst das kleine, mit Schneebeeren, Holunder und Mehlbeeren be­wachsene Gartenstück, in dem die alte Pestsäule stand, efeuumrankt, mit einem auf Metall gemalten Heiligenbild.

Wir Kinder hatten das Gärtchen mit Scheu betreten, nur wenn die weißen und roten Beeren lockten, die wir nicht essen sollten, weil sie, sagten die Erwach­senen, giftig waren. Die Stätte war immer geheimnisvoll und wie verwunschen. Ich vermute, daß es die alte Pestsäule ist, die jetzt die weiße Figur trägt. Pflanzen­welt und Mysterium der Kinder sind versunken.

Auch hier ist die Einfahrt in unser Grundstück durch die graue Blechwand ver­sperrt. Ich sah aber das Grün und die Knospenstände der Kastanienbäume, die den Platz säumen, den der Volksmund den Schweineplan nannte. Er war der Mittelpunkt unseres Kinderlebens gewesen. Im Hintergrund wurde ein Stück des Elternhauses sichtbar, die linke Seite des Obergeschosses mit dem Fenster meines Zimmers, das eigentlich Tante Hannchen Vorbehalten war, das ich räumen mußte, wenn sie, zu­letzt von der Bühlerhöhe, zu Besuch kam. Ich würde dem Weg in die Feldmark, unterhalb des Turnhallengrundstückes/folgen müssen, um zum Elternhaus vorzudrin­gen. Eine unerklärbare Scheu hielt mich zurück, den Ursprungsort, die Stätte von Wiege und Krippe, von Spiel und frühem Kampf, wo vieles, was mich ausmacht, zum ersten Mal geschah, das Kindheitshaus, das Haus von Traum und Alptraum, sogleich anzugehen.

Ich kannte in der Heimatstadt nur noch Lotte, die Kindheitsfreundin. Sie hatte mir Gastfreundschaft angeboten. Ich würde Tage und Nächte in Patschkau bleiben kön­nen, war nicht auf ein Hotel in Neisse oder einen Kurort des Glatzer Berglandes angewiesen. Lotte würde mich auch beköstigen, der Kofferraum war vollgepackt. In der Stadt, die meine Europakarte - neben Breslau und Trebnitz - als sehenswerten


 

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Ort Schlesiens hervorhebt, gibt es kein Restaurant. Die Touristen bleiben nur weni­ge Stunden in Patschkau. Lotte würde meine Dolmetscherin, sie würde meine Patronin sein, ln mir steckten noch Angst und Schrecken von Fremdherrschaft und Vertreibung. Mit Lottes Hilfe hoffte ich hinter die Fassaden schauen, den Dingen auf den Grund gehen zu können.

Lotte war ein schönes, gertenschlankes Mädchen gewesen, ihr dunkles Haar, ihre Lockenpracht wurden gerühmt. Als alles zusammenbrach, als sich erfüllte, was vor­gezeichnet war, damals im Jahr 1945, als erst die Russen und dann bald die Polen kamen, als wir noch nicht begreifen konnten oder wollten, was geschah und was uns bevorstand, damals, in dieser Zeit des Wirrwarrs, fand Lotte ihre Liebe. Der junge Pole konnte Lotte nicht vergessen, als sie mit ihrer Familie vertrieben war. Lotte konnte in Niedersachsen ihre Liebe und die schlesische Heimat nicht ver­gessen. Der junge Pole fuhr nach Westen und holte Lotte zurück nach Patschkau. Nur zu den Beerdigungen ihrer Mutter und ihres Vaters reiste Lotte in die Bundes­republik. Ihr Bruder hat sie in Patschkau nie besucht, er wartet vielleicht auf mei­nen Bericht.

Wenn sich Kindheitsfreunde als Erwachsene wiederbegegnen, hat die Zeit ihre alte Zuneigung nicht zerstört. Sie sind von einem Vertrauen erfüllt, das sich über Träu­me der Nacht in den Tag gerettet hat. Sie schließen sich mit einer Innigkeit in die Arme, wie sie es als Kinder niemals getan hätten. So geschah es Lotte und mir, als sie die Wohnungstür öffnete, und ich meinen Namen nannte. Vertrauen und Zuneigung zu Lotte haben meine Tage in Patschkau getragen. Wir sprachen schle­sisch miteinander, und ich sprach Worte, die ich zuletzt als Kind gehört hatte.

St. Johannes Evangelist

Des Hauses unseres Herrn und Gottes

wegen wünsch ich dir Wohlergehen.

Psalm 122, 10

Am 26. Mai 1946 mußten sich eintausendfünfhundert Patschkauer Bürger im Hof der Agnesschule einfinden. Nachdem unsere Habseligkeiten kontrolliert und geplün­dert worden waren, wurden wir zum Ottmachauer Bahnhof getrieben und in Güter­wagen verfrachtet. Als der Zug den Patschkauer Bahnhof passierte, und viele von uns unter Tränen von der Vaterstadt Abschied nahmen, da hielten unsere Blicke das Bild der Pfarrkirche fest, bis der Helm ihres Turmes versunken war. Nun wuß­ten wir, daß wir von jetzt an heimatlos sein würden. In ihrem Herzen aber be­wahrten die Patschkauer das Bild von St. Johannes, ihrer Pfarrkirche. Es blieb für


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sie, auch wenn sie in der Fremde heimisch wurden, das Sinnbild ihrer Heimat, das durch kein anderes Gotteshaus verdrängt werden konnte.

Der Wagen war auf dem Hof geparkt und der Kofferraum ausgeräumt. Lotte hatte mir das Wohnzimmer mit der ausgeklappten Couch überlassen, ich war in Patschkau etabliert. Das erste Ziel meiner Erkundungen sollte die Pfarrkirche sein. Ich verließ das Haus und ging über den Ring zur Konradstraße. Jetzt nahm ich wirklich den mächtigen Bau wahr, dessen Bild ich so lange gehütet hatte. Von meinem Blick ergriffen, stieg vor mir auf der Anhöhe leibhaftig die Pfarrkirche St. Johannes auf. Hier war die Wirklichkeit, die Erscheinung war nicht nur Bild, nicht nur Erinnerung, nicht nur Sehnsucht. Mir fielen die Worte von Kardinal Bertram ein, die er zu unserem Pfarrer gesagt hatte, als er zur Firmung nach Patschkau gekommen war: Ihre Kirche ist wie ein Dom. Das war im Jahr 1942. Da erklangen die Glocken, die der Krieg geholt hatte, bereits von einer Schallplatte über Lautsprecher, die am Kirchturm installiert waren. Ich stand vor der Kirche und blickte zum Haupteingang hinauf. Das Portal wirkt im Vergleich zu dem mächtig aufstrebenden Baukörper bescheiden. Die Kirche war von Anfang an als Zufluchtsburg angelegt, sie war Teil der Stadtbefestigung. Ihr Umbau zur Wehrkirche erfolgte allerdingt erst in der Zeit, als die Türken Mit­teleuropa bedrohten. In dem obersten Giebelfeld über dem Portal sah ich zwischen Spitztürmchen zwei Wappen.

Die Wappen weisen als Stifter der Kirche Prezclaw von Pogarell aus, der von 1341 bis 1376 Bischof von Breslau und damit Landesherr des Neisser Bistumslandes war. Das linke Wappen ist das des altschlesischen Herrengeschlechtes Pogarell, rechts ist das Wappen des Neisser Fürstentums. Zwischen 1350 und 1360 ließ Bischof Preczlaw nicht nur die Kirche, sondern auch die doppelte Stadtmauer mit den drei großen Tortürmen auf seine Kosten erbauen. Damit war die Westflanke des Neisser Fürstentums, das der Bischof einige Jahre zuvor durch den Erwerb der Herrschaft Grottkau nach Norden vergrößert hatte, durch die stark befestigte Stadt Patschkau gesichert. Für die Kunstgeschichte ist unsere Kirche wegen ihrer hohen kubischen Bauform der böhmischste Hallenbau in Schlesien. Diese Deutung leuchtet ein, wenn man bedenkt, daß Schlesien zu der Zeit, als die Kirche erbaut wurde, bereits zur böhmischen Krone gehörte. Kaiser Karl IV. nannte die Bischofs­stadt Breslau, die er oft besuchte, neben seiner Hauptstadt Prag und der Silber­stadt Kuttenberg, Zierate der Könige, des Reiches und der böhmischen Krone.

Das Hauptportal war, wie auch zu unserer Zeit üblich, geschlossen; es wurde nur an besonderen Festtagen geöffnet. Ich betrat die Kirche durch die nördliche Vor­halle, den vertrauten Eingang, zu dem unser Kirchweg über die Promenade an der Volksschule führte. Mich empfing ein strahlend schöner, heller Raum, der mich mit


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seiner hohen Würde überwältigte. Das gotische Rippenwerk ist in einem warmen Weiß getönt und hebt sich von dem lichten Grau der Innenflächen der Einwölbung ab. Die Wände der drei Kirchenschiffe und die Pfeiler wiederholen den Weißton der Rippen. Wir können uns mit den Polen, vor allem mit Pfarrer Edward Henne, in dessen Amtszeit die erst kürzlich abgeschlossene Renovierung des Kircheninne­ren fällt, über das gelungene Werk von ganzem Herzen freuen.

Der elegante Taufbrunnen steht jetzt auf der linken Seite des Hochaltars, die Ses­sel für die Zelebranten eines Levitenamtes sind auf der rechten Seite des Pres­byteriums aufgestellt. Die Kirchenbänke, in denen zu unserer Zeit die Damen der Hautevolee saßen, sind entfernt worden. Die barocke Madonna, uns vom Maialtar vertraut, ist jetzt aus Sicherheitsgründen im Pfarrhaus. In der Maltitzkapelle dachte ich an den Nachfahren der Stifterfamilie, dem ich vor Jahren in Erlangen begegnete, und der erst durch mich von der Kapelle mit dem bedeutenden Renais­sance-Altar erfuhr, die seinen Namen trägt.

Am Sonntag nahm mich Lotte in das Hochamt mit, das am Opfertisch vor dem Presbyterium zelebriert wurde. Die Kirche war gedrängt voll mit Gläubigen, die dem Gottesdienst andachtsvoll folgten. Überraschend war die Anwesenheit vieler junger Menschen. Die Gebete und Gesänge, die Predigt in der fremden Sprache lie­ßen in mir keine Anteilnahme aufkommen. Ich fühlte mich als Fremder unter Fremdlingen. Während der Austeilung der Kommunion stieg ich durch den südlichen äußeren Treppenturm zur Chor hinauf. An der Orgel saß ein einarmiger alter Mann. Ich dachte an unseren Chorrektor Wilde, der in festtäglichen Hochämtern Messen von Haydn, Mozart und Schubert zur Aufführung brachte. Im Kirchenchor sang bei den Tenören mein Vater mit. Er stand meist neben Lehrer Grützebauch, der sich zum angemessenen Ausdruck hoher Töne stets auf die Schuhspitzen stell­te. Auf und nieder wippend, zeichnete der kleine Herr die Höhen und Tiefen einer Tenorpartie mit dem Körper nach, wobei er im Hochstand den Blick über seinen goldenen Kneifer angestrengt auf den Dirigenten heftete. Chorrektor Wilde muß ein befähigter Musiker gewesen sein. Nach der Vertreibung gewann er mit seinem neuen Chor erste Preise auf internationalen Wettbewerben.


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Die Sakristei

Ihr hattet wohl viel verschuldet, daß Dunkel lag über eurem Land.

Cyrus Atabay

Zur Tür des Pfarrhauses von St. Johannes und weiter hinauf zur Wohnungstür füh­ren zwei breit angelegte, steile Treppenaufgänge. Sie überwinden das Gefälle zwi­schen dem Wohngeschoß, dessen nördliche Front auf die Promenade hinausgeht, und dem Pfarrhof. Ich stieg die vertrauten Steinstufen hinauf, um bei dem polni­schen Geistlichen eine Seelenmesse für meine Großeltern mütterlicherseits und meine Eltern zu bestellen und um Zugang zur Sakristei zu bitten, zu dem Kirchen­raum, in dem sich Priester und Ministranten auf den Gottesdienst vorbereiten.

Ich dachte an unseren Pfarrer. Erzpriester Rieger war einer jenen seltenen Männer, in denen sich Autorität und Güte so natürlich verbinden und mitteilen, daß sie ohne weiteres die Liebe und Verehrung vieler Menschen gewinnen. Die Augenblicke, als Pfarrer Rieger seine Hand auf den Kopf des kleinen, wilden Jungen legte, der sein Ministrant war, bleiben unvergessen. Pfarrer Rieger war der gute Hirt seiner Gemeinde und er blieb es auch nach der Vertreibung, als seine Pfarrkinder in alle Winde verstreut waren.

Pan Edward Henne, der seit 1981 als Pfarrer in Patschkau amtiert, empfing den Fremden, der an seiner Tür geläutet hatte, mit freundlicher Zurückhaltung. Wir sprachen deutsch. Pfarrer Henne versteht offenbar die deutsche Sprache besser, als er sie zu sprechen weiß. Er trug die Namen meiner Vorfahren in ein Buch ein und überreichte mir eine Karte: Am 21. Mai sollte im Canon der Frühmesse meiner Eltern und Großeltern gedacht werden.

Der polnische Geistliche ging mit mir über den Pfarrhof zum Eingang der Sakristei und schloß die äußere und innere Tür auf. Wir betraten einen lichten Raum, auch die Sakristei war renoviert worden. Sonst konnte ich kaum Veränderungen fest­stellen. Die Schränke und Schranktische für Gewänder und Tücher, für Gerätschaf­ten, Kelche und Monstranzen stehen an ihrem alten Platz. Nur die schweren Seil­enden fehlen, die vom Glockenstuhl herabhingen, bevor die Glocken eingezogen wurden, damals im Krieg. Und auch die Betbank links von der Tür, die ins Pres­byterium führt, ist verschwunden.

Mit dieser Betbank verbinden sich Erinnerungen, die ein Licht auf die Heillosigkeit der Nazizeit werfen, von der ich als Kind nur durch solche Erlebnisse eine Ahnung bekam. Wenn ich an Sonntagen in der Frühmesse zu dienen hatte, kniete an die­sem Pult ein unscheinbarer Mann, der in sich versunken betete und so, ohne die


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heilige Handlung am Hochaltar zu sehen, an der Messe teilnahm. Er empfing die Kommunion, wenn der Priester in die Sakristei zurückgekehrt war. Der Mann kam, verweilte und ging hinweg wie ein Schatten. Auf seiner Kleidung war ein gelber Stern angenäht. Wir Ministranten wußten, daß es der Jude Weiß war, der sich hatte taufen lassen. Wir sprachen nicht über ihn. Irgendwann kam der Mann nicht mehr in die Sakristei, auch darüber wurde nicht gesprochen. Ganz anderer Art war die Gegenwart eines wohlgenährten Mannes ein paar Stunden später während des sonntäglichen Hochamtes. Ein langer Ledergürtel umspannte seinen stramm sit­zenden Uniformrock. Es war der Polizeihauptmann Stefan, der sich auch in der Sakristei auf hielt, um ungesehen am Gottesdienst teilzunehmen. Herr Weiß soll Ende 1942 in ein Konzentrationslager gebracht worden und dort umgekommen sein. Herr Stefan soll nach Kriegsende in Patschkau Straßen gefegt haben. Ich erinnere mich auch an die Spannungen, die wir als Ministranten mit den Jungvolkführern hatten. Na wartet nur, hatte der Wagner Zieten zu uns gesagt, nach dem Endsieg wird auch mit Euch aufgeräumt. Es ist mit Sicherheit der Widerstandskraft der katholischen Kirche zu verdanken, daß wir nicht vom Nazibazillus angesteckt wurden.

Als ich im Januar 1945, es war ein sehr strenger Winter, in der Abendstunde von der Kirche auf der verschneiten Promenade nach Hause ging, begegnete mir noch unmittelbarer das Grauen der Naziherrschaft. Von Uniformierten wurde eine Men­schenkolonne die Zollstraße hinabgetrieben. Die Menschen waren in gestreifte Klei­dung und Decken gehüllt, einige riefen um Hilfe. Ich verstand die Worte Hunger und Brot. Ich lief zu meiner Mutter, und sie packte Brot in eine Tasche. Ich lief zurück zur Straße und näherte mich der Kolonne. Als mich ein Wachmann be­merkte, jagte er mich davon. Ich ging zurück zu meiner Mutter. Wußten wir, über wen wir weinten? Ich erinnere mich nicht, daß meine Mutter Worte wie Auschwitz oder Konzentrationslager gesprochen hat. Ich erinnere mich aber, daß sie, als wir von Hitlers Ende in Berlin gehört hatten, zu mir sagte, Gott sei Dank, das Tier ist tot.

Zu Pfarrer Henne habe ich über das, was mich in der Sakristei bewegte, kein Wort gesagt. Wir waren uns fremd geblieben, kein persönliches Wort hatte die Barriere aus Scheu und Höflichkeit durchbrochen. Ich hätte ihm von einem Zwischenfall er­zählen können, der sich nach Kriegsende, schon in der Zeit der polnischen Herr­schaft, in der Sakristei zugetragen hatte. Wir Ministranten, deutsche und polnische Jungen, hatten die roten Gewänder und die weißen Chorhemden angelegt. Als der damalige Pfarrer der Polen, Franciszek Siekierski, bemerkte, daß die deutschen Ministranten die besseren Chorhemden mit feiner Spitze anhatten, befahl er, daß wir sie gegen die einfachen Hemden der polnischen Ministranten austauschten.


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Pfarrer Rieger sah dem Kleidertausch sprachlos zu, er mußte Schlimmeres erdul­den. Die deutsche Sprache war aus der Kirche verbannt. Er durfte nicht mehr pre­digen, die deutsche Gemeinde mußte ihre Lieder in lateinischer Sprache singen. Nur im Beichtstuhl konnte noch deutsch geflüstert werden. Wir haben das damals nicht verstanden. Wir wußten noch nicht, in welche Schuld selbst unsere Sprache verstrickt war, welche unsäglichen Befehle in dieser Sprache gebellt worden waren, welche schändlichen Urteile deutsche Richter verkündet hatten.

Als wir aus der Sakristei in den Chorraum unter dem hohen Netzgewölbe traten, erschien Pfarrer Henne lebhafter und aufgeschlossener, als er sich bisher gezeigt hatte. Er ließ erkennen, woran sein Herz hing. Als ich ihm meine Bewunderung für das gelungene Werk der Renovierung zum Ausdruck brachte, leuchteten seine Augen, und er führte mich im Kirchenraum umher und machte mich auf Einzel­heiten aufmerksam. Sobald wieder Geld bereitstünde, sagte er, würde die Arbeit fortgesetzt. Dieser Pfarrer ist mit Recht stolz auf sein Lebenswerk. Er erweist sich als tatkräftiger Hüter der Patschkauer Pfarrkirche, und steht damit in wür­diger Nachfolge geistlicher Herren, die mit dem Kirchenstifter ihren Anfang nahm.

Der Schweineplan

Tot ist der Garten ...

Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden.

Peter Huchel

Schwer, sehr schwergefallen ist es mir, über den Besuch des Elternhauses, diese Heimsuchung, über das geschundene Grundstück hinter der grauen Blechwand zu berichten. Mehrere Anläufe waren nötig, um mich auf den Weg zu bringen. Vorbei an dem kastanienbestandenen Platz zur Rechten überwand ich endlich in Lottes Begleitung die Distanz zwischen der weißen Figur auf der Pestsäule und dem Elternhaus.

Eigentlich wäre eine Schmähschrift fällig geworden, um den Zorn auszudrücken, der mich angesichts des verluderten Kindheitsraumes ergriffen hatte. Aber wer hätte geschmäht, von wem hätte Rechenschaft gefordert werden können? Nach der Vertreibung war es nicht zwingend, daß die vom Großvater in einen wirtschaftlich sinnvollen Zusammenhang gebrachte Liegenschaft nach diesen Grundsätzen weiter genutzt würde. Die polnische öffentliche Hand, der das deutsche Eigentum zuge­fallen war, hatte dafür keine Verwendung, denn die begüterte private Agrarwirt­schaft des Umlandes war beseitigt worden. Jetzt nach dem Zusammenbruch des so­zialistischen Wirtschaftssystems könnten die Vorzüge privatwirtschaftlicher Struk­turen wieder erkannt und belebt werden. Für unser Grundstück käme ein solcher


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Wandel wohl zu spät. Es wurde dem bedeutendsten Unternehmen in der Stadt, der Paczkowska Fabryka Mebli, überantwortet, die früher die Schneidersche Fabrik für Schul- und Zeichengeräte war. Die polnische Möbelfabrik verwendet das Grundstück für Vorratshaltung, Produktion und Direktverkauf. Als Wohnraum werden Eltern­haus, das Enzmannsche Haus und das erste Stockwerk des Bürohauses genutzt. Im ersten Stock der Gastwirtschaft ist die Gewerkschaft Solidarität untergebracht. Der Kaisersaal dient der Fachschule in der ehemaligen Volksschule als Halle für Ballspiele und Gymnastik, sein Parkettboden ist erhalten.

Der Weg in die Feldmark ist jetzt amtlich mit Aleja Spacerowa, Spazierallee, bezeichnet, und das Elternhaus trägt die Nummer 1. Unsere Anschrift war, wie die des gesamten Grundstücks, Zollstraße 2. Der Spazierweg führte Lotte und mich zum Elternhaus. Auf der rechten Seite die lange Reihe der Kastanienbäume, bald würden die Knospen aufbrechen und den weißen Glanz ihrer Kerzen entfachen. Die Bäume verstellten mir den Blick. Von dem Sockel der Einzäumung konnte ich den Platz überschauen. Da war er, der Schweineplan, eine Kokshalde. Ein Schaufel­bagger stand bereit, um Brennstoff für die Fabrik aufzuladen. Es war schockierend, den Spielplatz der Kindheit so verändert zu sehen. Aber hatte es sich nicht im letzten Kriegsjahr vorgezeichnet, als sich dort die leeren Munitionskisten der Wehrmacht türmten? Unbekümmert vergnügten wir uns damals mit Festungs- und Grabenkämpfen. Einmal allerdings, an einem Herbstabend des Jahres 1941, hatte auch uns Kinder ein Schaudern ergriffen. Die Bewohner des Grundstückes waren auf dem Platz zusammengelaufen, um den offenen Himmel zu betrachten, der blutrot in Flammen stand. Es gibt a Zeecha, rief jemand in die Stille. Und wir ahnten, was damit gemeint war. Die deutschen Truppen waren vor einiger Zeit in Rußland eingefallen. Aber das Zeichen schwand bald aus unserem Bewußtsein, und wir versanken in Indianerkämpfen und Ballspielen.

Die graue Blechwand macht um das Elternhaus einen Bogen und läßt einen dürfti­gen Vorplatz frei. Eingangslos und ohne einen Einblick zu gewähren, trennt sie das Haus von dem Grundstück, um auch hier das Fabrikgelände dicht zu machen. In den fünfundvierzig Jahren ist an dem Haus nichts instand gesetzt worden. Da die Fabrik für das Haus keine Verwendung hatte, und Mietzinsen im sozialistischen Wirtschaftssystem in der Regel keinen Gewinn einbringen, wurde es dem Verfall preisgegeben.

Die alte Dame, die das Erdgeschoß bewohnte, empfing uns sehr liebenswürdig. Lotte hatte sie auf den Besuch vorbereitet. Dagegen verweigerte der Bewohner des Obergeschosses, ein ehemaliger kommunistischer Funktionär, den Zutritt. Frau Jadwiga sprach deutsch. Sie war als junge Frau nach Patschkau gekommen und hatte - wir waren bereits aus dem Haus gewiesen und wohnten im Bürohaus - mit


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ihrem Mann das Erdgeschoß bezogen. Sie war seit längerer Zeit Witwe. Eine ihrer verheirateten Töchter lebt im Rheinland. Frau Jadwigas Mann hatte seine Selb­ständigkeit in der früheren Enzmannschen Schlosserei aufgeben und in einer Fabrik arbeiten müssen. Das Schlossereigebäude wurde abgerissen. Frau Jadwiga schaute mich verwundert an: Was waren Sie doch für ein hübsches Jungchen, und Ihre El­tern waren so tapfer. Ich fragte nach dem Ölportrait meines Großvaters. Ach, Sie werden in dem Haus nichts mehr finden, was Ihnen gehörte. Der Ingenieur aus Lemberg, der aus dem oberen Stock in den sechziger Jahren wegzog, weil seine Arbeit beim Ottmachauer Staubecken beendet war, hat alles weggeschafft. Wir ha­ben da nichts bekommen, wir haben hier alles selbst angeschafft, und auch oben ist nichts mehr da. Ich sagte, daß meine Frage nach dem Bild nicht so gemeint gewesen sei und bat, mich umschauen zu dürfen.

Lotte hielt mir später vor, ich hätte mich wie der Hauseigentümer aufgeführt. Ich suchte aber nur die verlorene Zeit, den Kindheitsraum, der die Heimat ist. Ich habe sie nicht gefunden, obwohl ich in dem Zimmer war, in dem ich geboren wur­de, obwohl ich Dinge, die mir vertraut waren, anfaßte, Schalter, Türgriffe, Bade­wanne, Kachelherd: Der Kindheitsraum war nicht mehr greifbar, er hatte sich in der Zeit verloren.

Dagegen schärfte sich mein Blick auf die Gegenwart. Ich öffnete die Fenster auf der Südseite und schaute hinaus. Die Fabrik war dem Haus direkt auf den Leib ge­rückt. Der Garten ist mit Stumpf und Stiel ausgerottet, alle Bäume und Sträucher abgeholzt, das Erdreich zementiert. Frau Jadwiga klagte über den nächtlichen Lärm. Ich erinnerte mich an den großen Klapsbirnbaum auf dem Gartenvorplatz, an seine kleinen, süßen Früchte, die jeder aufsammeln durfte, sobald sie auf dem Boden lagen. Versunken sind auch die beiden Brunnen, verschwunden die grüne Sommerlaube. Ich gedenke des toten Gartens, der Teil unseres vergangenen Lebens war.

Von dem weitläufigen Garten des Hieronymus Antonius von Kern, des Patschkauer Pfarrers von 1699 bis 1735, waren nur der verwunschene grüne Sprenkel mit der Pestsäule und unser Garten übrig geblieben. Schon im Garten des Pfarrherrn wur­den die Toten der großen Pest bestattet, die im Jahre 1713 von Wien über Prag nach Patschkau vorgedrungen war. Neben dem Vorkretscham, dem Vorgänger des Gelben Löwen, wurde ein Schwarzviehmarkt eingerichtet. An die Stelle des Pfarr­gartens mit dem grünen Totenacker war der Schweineplan getreten. Spätestens beim Bau der Turnhalle verschwand auch der obere Teil des Pfarrgartens. Anstelle des wöchentlichen Viehmarktes wurde auf dem Schweineplan die alljährliche Kir­mes, der Jahrmarkt, veranstaltet, dessen Belustigungen wir noch erlebt haben. Jetzt sind auch die beiden Überbleibsel des großen Stadtgartens des Pfarrers von


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Kern verschwunden. Übrig geblieben vom grünen Leben sind die Kastanienbäume. Am Rande stehend, behindern sie nicht die Kokshalde und sie geben dem amtlichen Namen der Allee, die sie säumen, wenigstens halbwegs die Ehre. Ihr Grün ist aber bereits dürftiger als zu unserer Zeit. Sie sind offensichtlich krank, ihre Stand­haftigkeit wird ausgehöhlt.

Im Keller zeigte sich der zunehmende Verfall des Elternhauses besonders deutlich. Wasser vom Paulshofberg, das früher in die Brunnen im Garten gelenkt wurde, steht in den Kellerräumen und dringt in den Wänden nach oben. Zu unserer Zeit sorgte auch der große Ofen der Zentralheizung für ein Abtrocknen von Feuchtig­keit, er wurde von den Polen nie in Betrieb genommen. Wenn beim Zuschütten der Brunnen die Drainage des Wassers tatsächlich vergessen wurde, werden die Schäden weiter um sich greifen. Das Elternhaus ist bereits verloren, eine Sanierung nicht mehr vertretbar. Es wird bald unbewohnbar sein. Wie ich erfuhr, ist Frau Jadwiga inzwischen ausgezogen.

Im Erdgeschoß des Gelben Löwen ist die einstige Raumaufteilung nicht mehr er­kennbar. Als wir die Möbelausstellung der polnischen Fabrik in den drei großen Räumen angeschaut hatten und in den ersten Stock zur Gewerkschaft Solidarität hinaufgehen wollten, wurden wir von einem Zivilisten zum Mitkommen aufgefor­dert. Wir beobachten schon seit Tagen, daß Sie hier fotografieren, der Herr Direktor will Sie sprechen, beantwortete der Werkschutzmann meine Frage nach dem Grund seiner Intervention. Ich beruhigte Lotte, die sehr aufgeregt war. Der Mann war vor der Wende Angehöriger der Miliz gewesen, und seine Umgangsfor­men entsprachen noch nicht seiner neuen Stellung.

Die Begegnung mit dem Direktor der Paczkowska Fabryka Mebli verlief sehr freundlich, nachdem ich meine Visitenkarte überreicht und meinen Aufenthalt er­klärt hatte. Der junge Diplomingenieur, der die Leitung der Fabrik erst kürzlich übernommen hatte, setzte uns Erfrischungen vor und ging dann mit uns in den Be reich hinter der ßlechwand, wo ich nach Belieben fotografieren konnte. Ohne die Informationen aus dieser Begegnung hätte ich meine Einzelbeobachtungen kaum in einen schlüssigen Zusammenhang bringen können, wäre die Vernunft nicht Herr von Empörung und Zorn über den Zustand unseres Grundstückes geworden; bestenfalls hätte ich für den Schweineplan Sätze der Wehmut gefunden. Vielleicht hätte ich unter der verluderten Oberfläche sogar die Heimat entdeckt.


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Weitere Erkundungen

Schwindet doch selbst

der Erdstrich der Kindheit, die einen Innenhof

auskundet, als war er die Welt!

Eugenio Montale

Viele Stunden bin ich in der Stadt umhergegangen, und fast immer hatte mir die Erinnerung ein Ziel gesetzt. Als ich am ersten Morgen nach dem Ankunftstag wie­der das Rathaus umschritt, denn der Ring ist ein Viereck, war die Pfarrkirche mein Ziel. Beim Verlassen des Ringes fiel mir zur Rechten, wo die Glatzer Straße einmündet, die verwahrloste, einst prächtige Fassade von Wolfs Hotel auf. Das große Gebäude steht leer und verfällt, die unteren Fenster sind zugemauert. Hier würde sich eine Sanierung lohnen, denn der wachsende Tourismus im polnischen Carcasonne, im Schlesischen Rothenburg yfragt jetzt schon nach einem annehmbaren Hotel- und Restaurantbetrieb. Das Rathaus mit dem Renaissanceturm und die Fas­saden einiger Bürgerhäuser sind stilgerecht restauriert, aber noch herrscht auf dem Ring Trostlosigkeit vor. Die Stadtverwaltung soll 56 Wohnhäuser unter Denkmal­schutz gestellt haben. Kapitalmangel und Privatisierung werden wahrscheinlich bald die Gelegenheit zur Zusammenarbeit, der Heimatliebe ein Betätigungsfeld bieten. Eines schönen Tages könnte Schlesien eine offene europäische Region werden.

Anstelle des Großen Holzkreuzes vor der Bartlakowski Villa in der Zollstraße steht ein Marmorkreuz, das wie ein Grabkreuz aussieht. Es ist nicht auszuschlie­ßen, daß seine ursprüngliche Bestimmung wie bei der gegenüberstehenden Madon­nensäule umgewidmet wurde. Die Gräber der Deutschen wurden früh beseitigt, und ihre Steine für den Aufbau polnischer Städte weggeschafft. Vielleicht ist hier das Grabkreuz einer Patschkauer Familie als Wegkreuz erhalten. Als ich mit Lotte in ihrem kleinen Garten beim Neuen Friedhof war, brauchte ich dort nicht nach der Grabstätte der Großeltern zu suchen.

Ein altes Ziel meiner Vorstellung war das Gymnasium, das ich in Patschkau bis zur Quarta besuchte. Als ich das stattliche Gebäude von der Schulstraße her betrat, leitete mich nicht die Spur einer Erinnerung. Fassungslos irrte ich durch Treppen­haus und Gänge. Schließlich ließ ich mir die Aula zeigen, auch hier kein Echo. Ich beschwor Namen und Gestalten von Lehrern und Mitschülern, selbst dieser Zau­ber schlug keine Brücke in den Raum. Alles war mir fremd, als wäre ich in einem unbekannten Gebäude. Hat mich die Schule so wenig beeindruckt, war die kindliche Abneigung gegen die Penne so groß? Bleiben nur Spiel und Ringelreihen unver­geßlich? Oder welche Verstörungen hat die Gleichzeitigkeit der beiden Vertrei­bungen aus Zeit und Raum der Kindheit bewirkt? Ich finde keine eindeutige Erklä­rung für diesen Erinnerungsverlust.


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Auf der Jauerniger Straße bin ich bis zum unbewachten Grenzbaum gefahren, eine Weiterfahrt war nicht möglich. Das Schloß Johannesberg, die Sommerresidenz und Zufluchtstätte der Breslauer Bischöfe, war auf diesem Weg nicht erreichbar. Auf der Rückfahrt sah ich, daß der frühere Feldweg zum Wasserturm jetzt eine Stra­ße mit Häusern ist. Mein Großvater hatte hier ein Baugrundstück erworben, auf dem wir Kartoffeln und Gemüse anbauten.

Das Wegkreuz

Schwarz bleibt einzig die Schrift im Heft:

Lebensspur eines Hasen, wundersame Schneise.

Joseph Brodsky

An einem frühen Nachmittag brachten wir Lottes Tochter nach Ottmachau. Die Nachbarstadt macht insgesamt einen gepflegteren Eindruck als Patschkau. Auf dem Rückweg fuhren wir über die Dörfer nach Gesess, das früher Gesäß hieß. Als Bürgermeister soll mein Großvater väterlicherseits die neue Schreibweise durchge­setzt haben, die auch eine unterschiedliche Aussprache ermöglichte. Das Wort war als Ortsname lächerlich geworden. Im Mittelhochdeutschen bezeichnete gesaeze den Sitz, Wohnsitz, den Ort, an dem man sich aufhält. In Süddeutschland gibt es drei Orte mit diesem Namen.

Der Bauernhof, von dem mein Vater stammt, wurde von den Polen geteilt; er wird jetzt von zwei Familien bewirtschaftet, von denen eine im Auszugshaus, dem Altenteil, wohnt. Lotte und ich besuchten die polnische Familie, die im Bauernhaus wohnt. Wie in alter Zeit umfaßt auch sie drei Generationen, Bauer und Bäuerin, ihren Schwiegersohn mit Frau und zwei Kindern. Wir wurden freundlich auf genom­men und in der großen Küche mit Kaffee und Kuchen bewirtet.

Lotte war unsere Dolmetscherin. Der Bauer schilderte die verzweifelte wirtschaft­liche Lage, es fehlte an allem. Jetzt, nach der Wende, wußten sie nicht einmal mehr, wie sie ihre Erzeugnisse absetzen sollten. Ich berichtete über bäuerliche Ini­tiativen wie Wochenmärkte und Genossenschaften. Der Bauer zeigte uns das Anwe­sen. Das solide gebaute, stattliche Haus ist leidlich erhalten. Der große Festsaal im ersten Stock, den mein Großvater mit farbiger Ornamentmalerei und Stückar­beiten ausschmücken ließ, wurde von den Polen in Wohnräume aufgeteilt. Wir wur­den nicht hinaufgeführt. Hof, Stallungen und Scheunen sind in einem elenden Zustand. Ich sah wenig Vieh, ein paar Kühe und Schweine, keine Pferde. Der Stolz des Bauern ist der Traktor, für den es keine Ersatzteile gibt. Ich dachte an das blühende bäuerliche Anwesen von einst und erkannte die ganze Trostlosigkeit des heruntergekommenen Hofes.


 

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Im verkleinerten Vorgarten steht noch das große Steinkreuz, das die Großeltern 1898 zum Abschluß ihres Hausbaues errichten ließen. Auf der Marmorplatte des Kreuzsockels ist der eingemeißelte Widmungsspruch mühelos zu lesen: Wandelt auf guten Wegen, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Im Jahr darauf wurde mein Vater geboren. Den Zuruf aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts habe ich mit der Kamera aufgezeichnet.

Bei dem in Gostiz amtierenden Dorfpfarrer bestellte ich für die Großeltern eine Gedächtnismesse. Auf meine Bitte zeigte mir Pfarrer Kazimierz Rucki die Gesesser Kirchenbücher, in denen ich nach den väterlichen Vorfahren suchte, die in der Zeit der Herrschaft Habsburgs über Schlesien aus Österreich eingewandert sein sollen. Die Folianten in der Gostizer Pfarrei reichen aber nur bis in die preu­ßische Zeit Schlesiens. Ich fand keine ältere Eintragung als die vom 9. April 1770, nach der von dem Bauern Anton Reinelt das von seinem Weibe Anna Regina, gebo­rene Neumannin, am 8. desselben geborene Knäblein zur Taufe gebracht und dem­selben der Name Franziscus Benedictus gegeben wurde. Ich halte es für möglich, daß sich ältere Kirchenbücher in Patschkau befinden, denn St. Katharina zu Gesess war in früherer Zeit Filialkirche von St. Johannes.

Pfarrer Rucki zeigte mir seine theologische Diplomarbeit über Wegkreuze und Bild­stöcke im Neisser Bistumsland, in der er das Steinkreuz der Großeltern eingehend beschreibt. In einem Brief mit Kopien der Beurkundung vom 9. April 1770 teilte mir Pfarrer Rucki mit, daß er am 3. November 1991 in St. Katharina eine zweite hl. Messe für die Verstorbenen feiern werde. Ich würde den weltoffenen geistlichen Herrn gerne Wiedersehen, auf jeden Fall werde ich ihm meinen Bericht schicken. Erst spät in der Nacht fuhren Lotte und ich zurück nach Patschkau.

Abschied

Es gibt kein Zurück: Gedächtnis voran!

Joseph Brodsky

Das Abreisedatum stand von Anfang an fest, es gab keinen Grund, den Aufenthalt zu verlängern. Ich hatte durchgehalten, ich war nicht davongelaufen, obwohl mir manchmal danach zu Mute war. Der Vertreibung durfte keine Flucht folgen.

Am Tag vor meiner Abreise sind wir nach Neisse gefahren. Lotte hatte etwas zu besorgen, ich wollte das Grab Eichendorffs sehen. Es war ein frischer, sonniger Tag. Unterwegs fielen mir die Obstbäume auf, die alle Landstraßen beidseitig säumten. Ihre Zweige standen in voller Blüte, die Erde war wie mit Perlenschnüren besetzt. In der Ferne sahen wir die Heideikoppe. Hinter Ottmachau fuhren wir an


 

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dem neuen Neisser Stausee vorbei, der fast so groß wie das Ottmachauer Stau­becken ist. An den Ufern beider Seen gibt es Campingplätze, das Motel mit Restaurant am Neisser Staussee schien für einen Aufenthalt gut geeignet.

Der ehemalige Jerusalemer Friedhof liegt links an der Einfallstraße, die über den Fluß in den Stadtkern von Neisse führt. Wir stellten das Auto auf dem Parkplatz vor dem Friedhofseingang ab. Es war schon Mittag, das Blumengeschäft war ge­schlossen. Ein Arbeiter zeigte uns den Weg zu der deutschen Grabstätte südöstlich vom Chor der alten Begräbniskapelle. Eichendorffs letzte Ruhestätte ist wohl das einzige Grab, das eine deutsche Inschrift trägt. Kein Baum wölbt sich über dem Doppelgrab, kein Laub verschattet den Blick. Die weißen Marmorplatten bedecken die Grabstätte vollständig. Die Inschriften sind gut zu lesen:

Hier ruht                              Hier ruht

LOUISE                                                                               JOSEPH

Baronin                                            Freiherr

von Eichendorff                                 von Eichendorff

geb. von Larisch                             Geheimer  Rat a.                                                        D.

geboren  d. 18. Juli 1792                  Geboren d. 10. März 1788

gestorben   d. 3. Decbr.  1855              gestorben d. 26. Novbr. 1857

Am Fuße des Grabes, am dunklen Steinsockel, lagen ein Gebinde mit weißen Im­mortellen und Kranzschleifen mit der Aufschrift Zum 203. Geburtstag / Vom Lubowitzer Eichendorff Verein, ein Strauß verwelkter roter Nelken und ein verrot­tetes Gesteck mit gelben Schleifen. Wir beteten das Vaterunser und die Bitte um ewige Ruhe und das Leuchten des ewigen Lichtes. Mir gingen Worte der letzten Strophe des Einsiedlers durch den Kopf:

O Trost der Welt, du stille Nacht! / Der Tag hat mich so müd gemacht, / Das weite Meer schon dunkelt, / Laß ausruhn mich von Lust und Not, / Bis daß das ewge Morgenrot / Den stillen Wald durchfunkelt.

Auf der Rückfahrt habe ich einen Bund duftender Maiglöckchen auf Eichendorffs Grab gelegt. Ich hätte Wurzeln ins Erdreich pflanzen müssen.

Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich von meinen Gastgebern, stieg in das Auto und verließ die Heimatstadt. Lotte begleitete mich noch ein Stück Weges auf der Äußeren Glatzer Straße. Mein Ziel war München, die schöne Stadt, wo ich wohne und arbeite. Unterwegs blieb ich zwei Tage im böhmischen Kuttenberg und begann mit der Niederschrift des Berichtes. Ich hatte keine Notizen gemacht. Das Gedächtnis, der unerbittliche Jäger, hatte die Spur aufgenommen.