Die mediale Revolution

 

Diese an der Universität Bonn als Dissertation entstandene und bei der Drucklegung aktualisierte Arbeit versucht einen Brückenschlag zwischen technischer und philosophischer Betrachtung jenes Gebietes, das mit Medien nur unzulänglich umschrieben wäre. Der Autor wählt dafür den Begriff Kommunikationstechnik und versteht darunter die traditionelle Nachrichtentechnik ebenso wie Datenverarbeitung oder Informationstechnik, Hardware und Software, Künstliche Intelligenz und Virtuelle Realität; die Konvergenz all dieser Bereiche ist ja seit einiger Zeit im Gange. Die vielfältigen Erscheinungsformen dieser Technik werden unter dem Gesichtspunkt von „Repräsentationsstrategien“ betrachtet. Der Informationsbegriff, Digitalisierung und Algorithmisierung spielen hier eine wichtige Rolle. Von Repräsentation ist deshalb die Rede, weil das anthropologische Konzept, aus dem der Autor die mediale Technik ableitet, dezidiert von Repräsentation und Vermittlung spricht; es ist Helmut Plessners „Identitätskonzept der vermittelten Unmittelbarkeit“. Dies versteht Bachleitner auch als Mediatisierungskonzept und kann so die technische Instrumentierung der Kommunikation anthropologisch fundieren. So wird die mediale Realitätskonstruktion als Teil der allgemeinen, anthropologisch bedingten und unhintergehbaren Konstruktion des menschlichen Subjektes verstehbar - und der Rückweg zu kurzschlüssigen Konzepten von Unmittelbarkeit und Authentizität verwehrt. Ausgehend von einer Ästhesiologie bestimmt Bachleitner die symbolische Interaktion als grundlegenden Habitus des Menschen, wie er paradigmatisch in der Sprache zum Ausdruck kommt. Zu diesem Grundverhältnis gehört auch eine nicht festgelegte, virtuelle Bedürfnisstruktur. In einem großen technischen Kapitel wird die Kommunikationstechnik - beginnend bei der Schrift - auf Repräsentationsstrategien untersucht.

Mit der größten Selbstverständlichkeit hantiert der im pluralis modestiae erzählende Autor - auch der plakative Titel dürfte kaum auf ihn selbst zurückgehen, da seinen Ausführungen jegliche Marktschreierei fremd ist - mit den angesehensten Medientheoretikern, Flusser, Bolz, Postman (den er in einer Fußnote abfertigt), arrangiert sie nach seinen Erfordernissen und widmet ein ganzes Kapitel der Destruktion von vier Koryphäen, Anders, Adorno, Weizenbaum und Baudrillard. Im abschließenden ethischen Teil wird nach den verschiedenen Formen der personalen, sozialen und institutionellen Vermittlungsformen der Kommunikationstechnik gefragt. Der individuelle Bezug eines Benutzers zum technischen Gerät wird üblicherweise unter ergonomischen Gesichtspunkten beschrieben. Die soziale Wirkung der Kommunikationstechnik hat man schon seit längerem in der Ethik der Medien thematisiert, und das institutionelle Moment kommt in den politischen Fragen, etwa der informationellen Selbstbestimmung und der Globalisierung zum Tragen.

Daß die Arbeit, wie der Autor im Vorwort selbst bedauert, nicht die Form eines (interaktiven) Hypertextes hat annehmen können, ist in der Tat ein Verlust, aber vielleicht verlöre man sich dann vollends in der Flut der Querverweise und Assoziationen. Ohnehin läßt die vor allem im ersten Teil hohe Argumentationsdichte eher an begehbares Chaos als an bequemes Flanieren durch eine überschaubare Medienwelt denken. Ein deduktiv geschlossenes Argumentationsgebäude - wie es in peniblen Dissertationen sonst üblich ist - wird man nicht vorfinden. Das wäre bei der Breite des hier behandelten Themenspektrums auch gar nicht möglich. Der Autor zieht eigentlich die Linien zwischen Anthropologie und Technik nicht durch, aber er führt sie so nahe zueinander, daß der Leser seine eigenen Schlüsse ziehen kann. Man findet gleichermaßen Heidegger neben DFÜ-Protokollen, hochabstrakte Ausführungen zur Handlungstheorie neben sehr konkreter, aber paradigmatisch gemeinter Kritik an aktueller Technik und Übertragungsdiensten.  In den seit dem Erscheinen des Buches vergangenen 3 Jahren hat sich zwar in der Computerei sehr viel getan, ist vor allem der Internet-Boom ins allgemeine Bewußtsein gelangt, aber die Argumentationstopologie dieses Buches berührt dies kaum, weil es hier eher auf das Freilegen grundlegender Strukturen ankommt. Von dort aus erscheint das Internet lediglich als globalisierte Ausprägung dessen, was man als Datenfernübertragung schon seit langer Zeit kennt. Auch der von den aktuellen Aufgeregtheiten der digitalen Branche angewiderte Leser wird in diesem Buch auf seine Kosten kommen, ohne daß ihm jedoch die Einlassung in technische Zusammenhänge erspart bliebe.

Unter der Gürtellinie des Fußnotentrennstrichs spielen sich oft die interessantesten Dinge ab, z.B. die bis ins Jahr 1974 zurückreichende Geschichte der graphischen Benutzeroberfläche. Immer wieder stößt man auch an jähe Abgründe und überraschende Ausblicke auf entfernte Sachverhalte. So wird die immense und hochaktuelle Problematik des Sozialstaates mit einem beiläufigen Nebensatz kühl unter Fiktion und Inklusionsversprechen eingeordnet (S.248). Hinter der Bemerkung, das Konventionalitätsproblem der Medien sei die Rückseite der These, daß Normen Artefakte sind, S.112, steckt eine ganze Medientheorie, und hinter dem Satz, Politik zehre die Gewinne der rationalen Ökonomie auf, nachdem die Ökonomie ihrerseits die Gewinne der Technik aufgezehrt habe, S.235, darf man eine ganze Wirtschaftstheorie vermuten. Beiläufig erfährt man auch, weshalb Beethovens Pastorale keineswegs in der Natur angesiedelt ist.

Dem Autor hat es gefallen, entlegene Quellen heranzuziehen, mündliche Vorträge, ein Typoskript ohne Paginierung, einen vor Jahren gesendeten Rundfunkbeitrag u.ä.,  doch wie an den Anhängen zu sehen ist - in denen ungewöhnliche Textsorten, Programmauszüge und Material 'aus dem Netz' versammelt sind - hat der Autor ohnehin einen enzyklopädischen Ansatz und sieht seine Arbeit wohl schon in einem künftigen digitalen Textuniversum angesiedelt, in dem es keine Einschränkungen der Verfügbarkeit mehr geben wird. Ein Personenregister fehlt leider, aber das Sachregister ist sehr umfangreich.

Dieses Buch ist nicht gerade ein Buch für Alle und Keinen, wie Nietzsche vom Zarathustra sagt, aber doch eines für Manche und Einige.                                           

                                           Nikolaus Schwarzbrück

 

Gerhard Bachleitner: Die mediale Revolution - Anthropologische Überlegungen zu einer Ethik der Kommunikationstechnik. Peter Lang Verlag Frankfurt/M.1997, Forum interdisziplinäre Ethik (Hg. G. Hunold) Bd. 15. 298 Seiten, DM 84,-. ISBN: 3-631-31483-3