Zeugnis der Reife

Ich frage mich: Reife? Wofür bin ich reif? Für das Leben? Das wir in dem, uns in der Schule dargebotenen Filtrat mit der Lupe suchen mußten, das nur in amtlich beglaubigter und lernmittelfrei zugelassener Form an uns herantreten durfte und deshalb vorher an Schwindsucht einging. Ein seltsam konglomeriertes Surrogat wurde uns da vorgesetzt: ein bißchen Natur, viel Geist und wenig Seele.

Die Natur, liebevolle, von allen getretene Mutter, blickte uns im Antlitz uralter, halbverschimmelter, ausgestopfter Viecher aus der biologischen Sammlung an. Wo es für diese "lebendige" Anschauung keine Möglichkeit gab, und dies war meistens der Fall, wurde auf das Lehrbuch mit ebenso lebendigen Darstellungen zurückgegriffen. Der Erdkundeunterricht: ein Memorierexercitium mit überholten Daten, nach Ländern geordnet. Physik: Spiel ohne Grenzen bis es heißt: nichts geht mehr. (Entsprechend der Entropie tritt letzterer Zustand häufiger ein). Chemie: wenn man nicht gerade an den "diesbezüglichen" Mann gerät und sofort von diesem Fach geheilt wird, erhebt sich die Frage bei manchem: klappt der Versuch heuer noch oder sollen wir auf einen anderen warten? Wohlan fürwahr zwar aber freilich auch gar sehr ergötzte die Pracht und Fülle der Sprache, der griechischen, welche wohlgebaut.und des denkenden Geistes Labyrinth widerspiegelnd, die oftmals überwältigt uns fanden wir von deren reichgegliederten Bau. Der Musikunterricht zeichnete sich gewöhnlich durch Nichtvorhandensein aus, so daß hier eine weitere Bewertung entfällt.

Wenn man alle Lehrer, die man im Laufe von neun Jahren genossen hat, im Geiste Revue passieren läßt und sich ihr Verhältnis zu uns Schülern nach ihrer eigenen Sicht anschaut, fällt auf, daß sie sich zu Beginn jeden Schuljahres beeilten, zu versichern, ihr staatlich genehmigtes DIN-Wohlwollen gegenüber den Schülern auf die ihnen anvertrauten Häupter verstreuen zu wollen - mehr als einen Kopf, möglichst den eigenen, brauchen die Kinder nicht dabeihaben und natürlich noch einen Arm zum Zeigen, ansonsten sind sie körperlos.

Sehr erstaunlich und kaum erklärlich sind freilich die manchmal geradezu eklatanten Diskrepanzen in dem Maß der von den Lehrern geübten Kulanz, auch was die Notengebung betrifft. Während den einen Lehrer gedämpfte Gespräche der Schüler während des Unterrichts, selbst wenn es sich um 30 Leute handelt, nur wenig stören, reagiert der andere bei 15 Leuten schon allergisch und verärgert, wenn nur ein Wort gesprochen wird. Müssen wir für die schwachen Nerven und die mangelnde Selbstironie anderer büßen?

Es ist überhaupt zu fragen, wie sich manche Lehrer und die Schule als Institution den "idealen Schüler" vorstellen. Während des Unterrichts redet er vorschriftsgemäß nicht mit den anderen, die Fünfminutenpausen stehen uns, wie wir uns belehren ließen, rechtlich gar nicht zu, sondern stellen nur eine technische Notwendigkeit dar, so daß der ideale Schüler auch auf sie verzichten können müßte. Wann soll dann die Kommunikation mit den anderen Schülern stattfinden? Bleibt logischerweise nur die 15 + 5 Minuten Pause. Kontakte auf Programm? Nein, das ist unmenschlich. Isolierung an den Arbeitsplätzen trägt nur zur Entfremdung bei und darf auf keinen Fall schon in der Schule einsetzen. Die sozialen Bezüge im Unterricht, der als "Unterrichtsgespräch" euphemistisch bezeichnet wird, zum Tragen bringen zu wollen, ist reine Fiktion und in der bisherigen Form völlig unmöglich. Die bayerische Verfassung fordert, "die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden". Man könnte hinzufügen: Wissen veraltet, Charakter nicht. Leider haben dabei fromme Wünsche in der Realität keinerlei Bestand, der Satz klingt angesichts des heutigen Massenbetriebs, der an den meisten Schulen herrscht, und der verstärkten und einseitigen und dadurch falschen Leistungsdruck zum Zweck der Auslese nach sich zieht, wie glatter Hohn. Will man die Schule so verstehen, wie die Verfassung es tut, muß man die Aufgabe der Individualisation und Sozialisation als äußerst wichtig ansehen und ihr einen entscheidenden, den wichtigsten Platz in der Schule einräumen, zumal der Schüler den größten Teil dieser, ihn prägenden Phase in der Schule verbringt.

Es gibt nun zwei Möglichkeiten: entweder die Schule verzichtet ganz auf die sozialen Bezüge und beschränkt sich ganz radikal auf bloße Wissensvermittlung, die aber dann so effizient wie möglich, in Form von komputerunterstütztem Unterricht, Fernstudien im Medienverband und was durch die Technik noch für Wege offenstehen, durchgeführt werden muß, so daß für andere Tätigkeiten genügend Raum bleibt. Wie sehr aber die Schule bereits heute der Entwicklung nachhinkt und wie extrem unrationell sie arbeitet, dürfte wohl offensichtlich genug sein und auch eingesehen werden, wenngleich so gut wie nichts dagegen geschieht. Die soziale Erziehung müßte anderen Institutionen überlassen werden können, vor allem dem Elternhaus, welches freilich selten wirklich dazu fähig ist.

Die andere Möglichkeit besteht darin, in die Schule den ganzen Integrationsprozeß in die Gesellschaft und die Entwicklung der Beziehungen des Menschen zu anderen Individuen, die ja die Grundlage seines Daseins bilden, miteinzubeziehen, was natürlich in der jetzigen Form undenkbar ist. Ein betrübliches Zeichen dafür, wie sehr sich das Schulsystem verfestigt hat, ist doch, daß man gar nicht mehr in der Lage ist, es sich anders vorzustellen, so daß sich Reformen in relativ belanglosen Änderungen der äußeren Organisation erschöpfen. Wer kann sich denn unter Schule etwas anderes denken als ein einzelnes Gebäude, in dem in einzelnen Räumen einzelne Klassen, d.h. aus einzelnen Schülern bestehende zufällige Verwaltungseinheiten, von einzelnen Lehrern einen einzelnen Lehrstoff vorgekaut bekommen. Was der Schüler mit dem Stoff macht, bleibt ihm überlassen, aber genau das zu optimieren und zu kontrollieren wäre die Aufgabe der Schule. Es ist noch nie jemand etwas gelehrt worden, es hat immer nur jemand etwas gelernt, und dafür müssen die besten Bedingungen geschaffen werden.

Von daher erscheint das herkömmliche Zensurensystem wenig sinnvoll, denn es mußte am Lehrstoff den Schüler und, in Konsequenz dazu, den Menschen am Schüler anstatt den Schüler am Menschen messen. Ein konkretes Beispiel hierfür wäre die Vernachlässigung der psychisch-sozialen Verfassung des Schülers bei der Bewertung seiner Leistungen. Ganz abgesehen von der daraus resultierenden Ungerechtigkeit ist sie bezeichnend für die einseitige Haltung der Schule gegenüber den ihr anvertrauten Objekten. Ein geradezu klassischer Ausspruch eines bekannten Professors unseres Gymnasiums veranschaulicht dies: "Ihr seid in erster Linie Schüler und sonst nichts!", sagte er uns. Nein, mein Herr wir sind in erster Linie Menschen, wir wollen es sein, nicht mehr und nicht weniger.

Nochmal die Frage: Zeugnis der Reife? Wenn hier einer reif ist, hat er sich das selbst zu verdanken und braucht es sich nicht von der Schule bestätigen zu lassen. Dieser aber sollte man ein anderes Zeugnis ausstellen: das Zeugnis der Unfähigkeit!

g.b.

 

Wie aktuell diese – hier leicht gekürzten - Überlegungen noch sind, kann man an folgendem Detail sehen, auf das der Hirnforscher Spitzer aufmerksam macht:

"Doch die Art, wie in der Schule meist Fremdsprachen vermittelt werden, ist ineffizient. Das ist auch der Grund, warum ein halbes Jahr im Ausland wesentlich mehr bringt als vier Jahre Leistungskurs à 5 Wochenstunden."

Spitzer im Interview "Gefühle bleiben im Gedächtnis - Fremdsprachen lernen sich am schnellsten und besten, wenn der Schüler emotional beteiligt ist, sagt der Hirnforscher Manfred Spitzer." SZ "Beruf und Karriere" 21.4.2007, S.1