Kommunikationschancen durch ISDN untersuchte eine Fachkonferenz, die der Münchner Kreis am 24.6.1987 im Europäischen Patentamt im Anschluß an einen zweitägigen Workshop abhielt. Fachleute aus Europa und Nordamerika gaben einen internationalen Überblick, und dabei traten erwartungsgemäß erhebliche Mentalitätsunterschiede zu Tage. Während die (Kontinental-)Europäer mit ihren traditionell monopolistischen Postverwaltungen ihre Aufgabe in Reglementierung, flächendeckender Versorgung mit allgemein nachgefragten Diensten und langfristiger Stabilität des Dienstleistungsangebots sehen, dominiert in den angelsächsischen Ländern, vor allem in den USA, eine Politik der offenen Kommunikation. Aus Amerika kam denn auch herbe Kritik an den europäischen Normvorstellungen. Dr. K. Phillips hielt eine langjährige Festschreibung der Übertragungskapazität auf Grund des heutigen Standes der Technik für nicht akzeptabel. Die 64 kBit/s pro Kanal, bzw. 144 kBit/s für das Kanalensemble seien nur gemessen an bisheriger mechanischer Vermittlungsleistung viel, gemessen aber an den in der EDV üblichen Datenflüssen wenig. Er plädierte für eine Hochgeschwindigkeitspaketvermittlung mit 1,5 MegaBit/s, für die es z.Z. allerdings erst Labormuster gibt. So mußte er sich auch fragen lassen, was man denn gegenwärtig installieren solle.

Nur gestreift wurde die ebenso heikle Frage, wo die maschinelle Intelligenz, die doch den Leistungsgewinn des neuen Netzes ausmacht, verortet werden sollte: beim Teilnehmer oder im Netz, d.h. bei der Postverwaltung? Dr. Neumann von der DBP bot einen 'Wettbewerb der Verortung' an, d.h. der Markt müsse erweisen, wo die Intelligenz am effektivsten untergebracht sei. Dieses Angebot ist aber eher rhetorischer Natur, da die Post immer versuchen wird, den Anwender zu einer von ihr einmal bereitgestellten Infrastruktur zu drängen und ihm den Gebrauch eigener Intelligenz zu untersagen. Das ganze Btx-Unternehmen und die Strategie bei den Datel- Diensten belegen dies.

Außer Betracht blieben in dieser Konferenz die ferneren Probleme von Breitband-ISDN, nämlich u.a., ob und in welcher Form Fernsehen zu einem Gegenstand von Vermittlung - und nicht bloß Verteilung - werden soll und kann. Schmalband-ISDN enthält als Fernseh-Derivate lediglich das Bildtelephon, bzw. die Videokonferenz.

Warum überhaupt ISDN? Selbst auf diese Frage gab es keine eindeutige Antwort. ISDN ist zwar insofern Realität, als ein Normenentwurf dafür existiert und die Einführung entweder schon begonnen hat oder, wie bei der DBP, bevorsteht. Und die Digitalisierung des Telephonnetzes, Voraussetzung für ISDN, jedoch nicht identisch damit, wird schon wegen der dabei erzielbaren Rationalisierungsgewinne betrieben. Aber was der Endbenutzer an der ISDN-Steckdose mit ihren 8 Anschlüssen wirklich anstecken wird, weiß niemand zu sagen. Alle Prognosen darüber sind äußerst unsicher. Soll man also auf geschäftliche Nutzung setzen und warten, bis die Nachfrage zu den privaten Haushalten diffundiert, oder soll man durch eine zurückhaltende Tarifpolitik gleich allgemeine Akzeptanz zu gewinnen suchen? (Die DBP verlangt dagegen 74 DM Grundgebühr monatlich).

Prof. Witte, der die Tagung leitete, zitierte das Bonmot: ISDN ist eine Lösung, die nach ihren Problemen sucht. Natürlich hat ISDN durchaus einen 'vernünftigen Anlaß' - die EDV und die Kommunikationstechnik wachsen zusammen, und dafür soll ein Gesamtrahmen geschaffen werden. Der Synergie- Effekt wird beträchtlich sein, aber wie dieser Rahmen letztlich aussehen soll, ist eine politische, keine technische Entscheidung. Prof. Witte stellte nicht als einziger in Frage, ob Postverwaltungen mit diesem so sehr auf individuell-kreativen Umgang angewiesenen Instrument ISDN zurechtkämen. Wenn Bedarf und Nutzungsverhalten so sehr im Dunkeln liegen wie bei ISDN, hätte man allen Grund, die Entscheidungen dem Markt zu überlassen. Im Dunkeln liegen aber auch noch die technischen Möglichkeiten selbst: wir wissen noch gar nicht, was man mit 144 kBit/s alles machen kann. Die Digitalisierung bemächtigt sich aller Art von Information, und Information ist der Hauptbestandteil von Kultur. Wir reden mit ISDN also auch über die zukünftige Gestalt unserer Gesellschaft.

Gerhard Bachleitner