Homo homini diabolus - Zur Tragödie des Teufels von Peter Eötvös in der Bayerischen Staatsoper

Imre Madachs Drama fußt offenkundig auf Goethes Faust, namentlich dessen zweitem Teil, zieht aber eine andere Grenzlinie zwischen Religion und realistischer Handlung/Literatur, Prolog im Himmel und Wanderungen durch Räume und Zeiten. Der Protagonist ist kein historischer, individuell überhöhter Mensch mehr, wie Faust, sondern der allgemeine Mensch Adam, der insofern unmittelbar aus dem biblischen Paradiesgeschehen in verschiedene weltgeschichtliche Epochen geschickt wird. Das wirkt alles viel parabolischer und blasser als bei Goethe, und auch die Verkörperung des Bösen, der gefallene Engel Lucifer, kann Mephistos Witz und Häme nicht erreichen. Immerhin erspart sich Madach so die Hölle als Konkurrenzveranstaltung zu Himmel und Paradies. Daß er einen zweiten verbotenen Baum in Eden annimmt, dessen Frucht ewig junges Leben verheißt, nimmt einen wesentlichen Aspekt von Goethes Faust 2-Handlung in den Prolog hinein. Madach erkennt als Schwäche der biblischen Paradieserzählung, daß die Verführung zu/mit Erkenntnis nicht auf Dauer vorhalten kann. Der biblische Autor artikuliert mit seinem Motiv das Erschrecken des antiken Menschen vor der Ambivalenz des Selbstbewußtseins/Reflexionsvermögens sowie der im Sexus zu Tage tretenden Leib-Seele-Dualität.

Der Hauptstrang der Handlung des 1861 verfaßten Werkes ist von Schopenhauers Pessimismus beeinflußt. In der Danton-Episode scheint Büchner über die Schulter zu schauen. Die Wissenschaftsutopie Bild 12 scheint ein Extrakt zahlreicher Science-Fiction-Mätopien zu sein, etwa nach dem Muster: M. Atwood Geschichte der Dienerin, Huxley Schöne neue Welt, Strugatzki Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein.

Die Modernität dieses Pessimismus ist wohl keine andere als diejenige Schopenhauers und wird durch einen höchst katholischen Schluß wo nicht konterkariert, so doch verwegen aufgelöst. Immerhin ist zu berücksichtigen, daß Madach noch vor nietzscheanischer Gewalttätigkeit und Moralvernichtung schrieb. Evas Schwangerschaft wird mehr oder weniger als Ausweg angeboten, auch wenn durch diese Geburt ausdrücklich das Böse in die Welt gesetzt wird, nämlich Kain. Die Elternschaft domestiziert auf natürliche Weise den Pessimismus, und die leibliche Unmittelbarkeit der Frau schafft in jedem Falle einen Ausgleich zu den (männlichen) Aporien der Erkenntnis und Existenz.

Wenn das Libretto diesen Weg nicht mitgeht, sondern einen tragischen Schluß vorschlägt, liegt das durchaus auf Madachs Linie, nur, daß dadurch der Autor eben nicht in seinem Konsonanzstreben mit seinem damaligen Bürgertum belassen, sondern in die soziale Kälte des 21. Jhdts. fortgeführt wird. Dramaturgisch wird die destruktive Wendung durch eine Binnendifferenzierung der Frau erreicht. Neben Eva gibt es hier noch die dämonische Lilith, und ihretwegen tötet Adam am Ende Eva. Was aber ist damit erreicht.? Adam ist noch immer mit einer Frau zusammen, aber so gleichrangig diese Verbindung auch sein mag - woran wir nicht glauben, weil dieser Adam eine viel zu lasche Type ist -, wird sie gewiß nicht zur Nachkommenschaft führen, denn eine solche Frau unterwürfe sich natürlich auch nicht der "Fremdbestimmung" durch ein Kind. Ihr Mordauftrag erklärt sich offenkundig auch aus Uterusneid, der Nebenbuhlerin aufgrund ihrer Schwangerschaft(sbereitschaft) unterlegen zu sein und die sich andeutende Bindung Vater-Mutter-Kind nicht mehr sprengen zu können.

Die Theodizee, d.h. die universale Defizienz der Welt, läßt sich jedoch mit Sicherheit nicht in einer solchen Konkurrenz weiblicher Rollenmodelle abbilden oder wiederfinden. Ostermaier ist damit in ein ganz anderes Fahr- oder Abwasser geraten. Auch das aus Strugatzki entnommene Personal überzeugt nicht, doch läßt es sich als Ensemble von Nebenfiguren einordnen.


Die Aufgabe des Bearbeiters...

Ostermaiers Aufgabe war ziemlich klar: Imre Madáchs allzu ausführliche Vorlage von 1861 zu komprimieren und ggf. zu aktualisieren, also verstaubtes Bildungsgut zu entfernen und neuere Stationen gesellschaftlich-kultureller Destruktivität einzusetzen. Formal betrachtet hat er dies auch gemacht. Er hat Ägypten (5.), Athen (6.) , Rom (7. Bild), den vorderen Orient (8.) und das Gentechniklabor (9. Bild) beibehalten, Figuren aus Strugatzkis Mätopie Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein eingebaut, den Vorderen Orient aktualisiert und eine Flugepisode hinzugefügt (10.). Die wichtigste Zutat ist jedoch die Erweiterung des Bösen durch die Figur der mythologischen Lilith. Diese Variante des Bösen ist für die Hauptargumentation allerdings entbehrlich und wird wohl nur deshalb so wichtig genommen, weil man mit dieser apokryphen Figur so hübsch spekulieren kann. Wir kennen sie seit einigen Jahrzehnten als Speerspitze des Feminismus, weil sie auf Gleichberechtigung gepocht hat. Ostermaier sah sich deshalb zu einer hypothetischen Was-wäre-wenn-Geschichtsschreibung versucht, wird aber am Ende unversehens das Opfer ihrer Dämonisierung. Indem er Lilith dem Bösen zuordnet, hat er unvermeidlich das Urteil über sie gesprochen. Wenn sie aber eine realistische Alternative zu Eva hätte sein oder werden sollen, wäre klar geworden, daß dies den Verlauf und Lauf der Geschichte nicht geändert hätte.

Ostermaier hat seine Aufgabe ansonsten nicht genügend begriffen, nämlich die Hauptfrage des Dramas festzuhalten, d.h. für den Zuschauer erkennbar werden zu lassen: wie kann der Mensch sein Leben rechtfertigen, das sich zu allen Zeiten und mit beliebigen Begründungen als inhuman und destruktiv darstellt? Da der (verständlicherweise nicht persönlich auftretende) Gott seine Schöpfung als gelungen behauptet, handelte es sich offenkundig um die alte Theodizee-Frage, die Madách/Ostermaier hier stellen wollen. Formuliert wird sie gewissermaßen ex negativo: Lucifer will die Schlechtigkeit der Welt beweisen und Adam will allenfalls sehen, welchen Grund es trotzdem für das Leben geben könnte:

"Möcht' einen Blick in meine Zukunft werfen;

Lass' sehn, wofür ich kämpf', weshalb ich leide."


...und seine Dramaturgie

Ostermaier hat sich nicht klargemacht, daß er ein Ideendrama vor sich hat und es auch entsprechend flächig behandeln muß. Statt die vorhandenen Konturen nachzuzeichnen und der Musik offene Tableaux und paradigmatische Konstellationen zu liefern, ergeht er sich in expressionistischen Lyrismen, als gälte es, eine individualistische, um nicht zu sagen solipsistische Trakl'sche Obsession zu bebildern. Diese angestrengte, ehrgeizige Sprache drängt sich mit ihrer partiellen Unverständlichkeit (überflüssigerweise auch infolge der in den Übertiteln sichtbar werdenden Sonderorthographie) in einer Weise in den Vordergrund, daß von der Handlungsabsicht oft nur noch Fragmente sichtbar werden. Diese Überfrachtung und Unverständlichkeit ist von einigen Rezensenten zu Recht bemängelt worden.

Wenn man sich Ostermaiers Irrtum näher anschaut, überkommt einen der Verdacht, daß er die überhitzte Sprache, mit der er mit seinem Sprechtheater erfolgreich ist, auch für ein Libretto verwenden wollte, oder schlimmer noch, daß er Unarten des Regietheaters wie Forcierung von Details, unangemessene Emotionalisierung, expressionistische Stilisierung, Kohärenzaversion u.ä. gewissermaßen in seinem Text bereits mitkomponiert hat. Er versucht wohl schon mit seiner Sprache musikalisch zu wirken, statt die Gefühle der Musik zu überlassen, die dies nun wirklich besser kann.

In der Athen-Episode kann man zeigen, wie die Dramaturgie durch Verkürzung auseinanderfällt. Schon bei Madách ist der Verlauf nur mit Vorkenntnissen und gutem Willen nachverfolgbar. Es handelt sich um einen demokratietheoretischen Diskurs, und es geht um politische Verantwortung, Machtspiele und wechselnde Fronten zwischen dem Feldherrn Miltiades und der Volksvertretung. Ostermaier verkürzt und ver­unklart noch weiter. Daß die vorausgegangene Episode als altägyptisches Modell für Fronarbeit gemeint war, wird in dieser Inszenierung auch nicht recht deutlich, weil Adam nicht als Pharao wahrnehmbar wird.


Vergebene Chancen der Aktualisierung

Die Aktualisierung des Nahen Ostens hätte Ostermaier gelingen können. Während Madách Kreuzritter in Jerusalem einziehen und in kleinliche Ketzerverfolgung geraten läßt, springt Ostermaier nach Bagdad in die Gegenwart und stellt sich eine Szene zwischen amerikanischen Besatzern und einheimischen Häftlngen vor. In der Tat wird dabei bewußt, daß ein amerikanischer Präsident seine Armee in einen "Kreuzzug gegen das Böse" geschickt hat. Statt sich aber auf das offenkundige Unrecht dieses Krieges zu beziehen, das wohl auch zu langweilig wäre, weicht Ostermaier sogleich in seine privatistisch-exhibitionistische Bühnenwelt aus und unterstellt die Vergewaltigung eines Häftlings durch eine sadistisch veranlagte Eva, d.h. läßt sie ihn sexuell benutzen und auf ihm reiten; aber ein solcher Akt ist ja eine contradictio in adjecto und insofern einfach nur lächerlich.

Ostermaier hätte auch die London-Episode, Madáchs 11. Bild, mit Gewinn aktualisieren können, in der Madách die damals moderne Industriegesellschaft hellsichtig als Massengesellschaft begreift und weiterhin soziale Ungleichheit und Unterdrückung am Werke sieht. Parallelen zur heutigen Arbeits- und Konsumwelt und die Diagnose der Monetarisierung/Kommerzialisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse hätten sich angeboten.

Was ist das für ein Wettstreit, wo der eine

Bis an die Zähne kriegerisch gewappnet

Dem nackt Entblößten gegenübersteht?

Welch' eine Unabhängigkeit, wo Scharen

Elend verhungern müssen, wenn sie sich

Ins Joch des einzelnen nicht beugen wollen?

Dies ist ein Kampf von Hunden um den Knochen!

Auch die Konklusion des Dramas zeigt das Mißverhältnis, in das der Librettist die Madách'sche Vorlage gebracht hat. Daß das Stück nun nicht mehr Tragödie des Menschen sondern Tragödie des Teufels heißt, könnte zunächst als spielerische Aspektverschiebung erscheinen. Aber Ostermaier endet tatsächlich mit der Sinnkrise Lucifers, daß es für ihn nun nichts mehr zu tun gebe - als ob es darauf ankäme! Währenddessen verharren Adam und Lilith, von denen ja das weitere Schicksal der Menschheit abhinge, in einem Zustand völliger Ungeklärtheit.

Im übrigen hat bereits Madách die Schlußbemerkung Lucifers unmöglich und gegenstandslos gemacht. Es sagt zum Herrn

"Der Geist, der stets verneint von altersher:

...

Du zeugtest Stoff, und da gewann ich Spielraum,

...

Du siehst, wo du bist, bin gewiß auch ich."

Lucifer weiß, daß er der Schöpfung stets inhärent bleibt. Ostermaiers finale Banalisierung entwertet nachträglich das vorangegangene Geschehen.


Die Szene

Bühnenbild und Regie (Balàzs Kovalik) kommen mit dem verunglückten Libretto recht gut zurecht. Ilja und Emilia Kabakow haben ein multifunktionales Monument gebaut, das Treppe, Torbogen und Ruine darstellen kann. Die Treppe läßt sich auch als Hierarchiemetapher, Amphitheaterausschnitt und Himmelsleiter deuten. Die skulpturalen Elemente schlagen elegant und mühelos den Bogen von der ägyptischen Sakralkunst bis zum Sozialistischen Realismus.

Lilith, die hier Lucy heißt, wird als Vamp der Stummfilmzeit, Typus Asta Nielsen, auf die Bühne gebracht, praktikables Klischee ebenso wie der mit dem Rot (in diesem Falle Rosa) von Blut und Wollust konnotierte Lucifer.

Für die Apfelverführung und die sexuelle Bedeutung der Erkenntnis von Gut und Böse wird ein aufblasbarer, durchsichtiger Plastikapfel verwendet, in dem sich das Paar begattet - eine sehr überzeugende Lösung. Entsprechend dazu steigen im Schlußbild zahlreiche Kokons mit ungeborenen Menschen von Boden in den Himmel.


Die Musik

Madáchs Vorlage hätte von sich aus allerlei gute Anlässe für Musik angeboten, ironische Engelschöre, Volksaufläufe als Chöre, Jahrmarktszenen, futuristische Attitüde im Genlabor etc. Im 3. Bild werden Naturszenen entworfen, die sich bestens für eine musikalische Deutung eignen würden - ähnlich wie in Wagners Ring das Rheingold, der Bau Walhalls, das Waldweben usw. - nämlich ein Wärmestrom, ein Feuerstrom, den Lucifer als Magnetismus erklärt, Nymphen und die Erscheinung eines Erdgeistes, dieser mit folgenden Worten: Flammen schlagen aus der Erde, eine dichte dunkle Wolke bildet sich mit einem Regenbogen unter schrecklichem Donner. Da aber Ostermaiers Libretto in der Gegenrichtung unterwegs ist, bleiben diese Gelegenheiten ungenutzt.

Eötvos' Musik macht noch das Beste aus den Zumutungen des Librettos. Es ist unzweifelhaft Theatermusik - nach Meinung mancher Rezensenten sogar Filmmusik - und für ein zeitgenössisches Werk überraschend kulinarisch und luzide ausgefallen. Bisweilen wurde ihre Illustrativität gerügt und vermutet, dem Komponisten sei wenig eingefallen. Das große Welttheater schildert sie gewiß nicht, doch konnte sie auch nicht so weit über das Libretto hinauswachsen. Kantabilität kann man ihr allemal zugute halten, und insofern überzeugen auch die sängerischen Leistungen - allen voran Georg Nigl als Lucifer; Ursula Hesse von den Steinen als Lucy war wegen Indisposition heute, 7.1.11, leider nicht selbst zu hören, sondern wurde vertreten.

Als Glücksgriff erwies sich die Teilung des Orchesters in ein vorderes Orchester und ein Fernorchester im Bühnenhintergrund. Dies ist nicht nur der Raumnot geschuldet, weil nicht alle Musiker im Orchestergraben Platz gehabt hätten, sondern greift auch die Wagner'sche Idee des unsichtbaren Orchesters auf und erzielt eine angenehm indirekte Klangentfaltung. Daß man auch einen zweiten Dirigenten braucht, wird der Verbreitung dieses Verfahrens freilich Grenzen setzen. Der Komponist, der das Auftragswerk der Bayerischen Staatoper im vorigen Jahr aus der Taufe gehoben hat, dirigierte auch diesmal - authentisch und einfühlsam, wie man annehmen darf.


Gerhard Bachleitner