Tiefgefrorene Gefühle - Henzes Elegie für junge Liebende in der Bayerischen Staatsoper (9.5.13)

Der exzessiv heiter-dekorative Rahmen des Cuvillies-Theaters ließ die Oper wesentlich stärker gealtert erscheinen als irgend eine Rokoko-Komödie aus der Zeit, die die Architektur konservierte. Überholt wirkt dabei weniger Henzes Musik, da in der zeitgenössischen Musik nur professionellen (oder professionell deformierten) Ohren ein Fortschritt feststellbar sein dürfte, als vielmehr im Libretto, und es erhebt sich der verwegene Gedanke, eine Regie möge hier einmal den zeitgenössischen Stoff in Rokoko-Kostüme stecken - gewissermaßen auch als Buße für all die in die Gegenwart genötigten Mozart-Inszenierungen. Dies wäre übrigens auch inhaltlich zu rechtfertigen, denn die seltsam zeremonial-austriazistische Sprache des Poeten Mittenhofer, der seine Sekretärin in der dritten Person anredet, könnte dem Ochs von Lerchenau im Rosenkavalier abgeguckt sein.

Eine solche Flucht in die Vergangenheit könnte vielleicht auch von dem fatalen Problem der Handlung ablenken, seiner regressiven, um nicht zu sagen reaktionären Genieästhetik. Nicht lange danach hat nämlich Thomas Bernhard den Typus des österreichischen Staatsdichters und Staatsschauspielers (z.B. Theatermacher, Minetti) so nachhaltig demontiert, daß Audens Hagiographie unrettbar verloren ist. Henze blieb mit der Wahl dieses Stoffes der - durchaus gemeineuropäischen - Dichterverehrung eines in Wirklichkeit bereits zur Disposition stehenden Bildungsbürgertums verhaftet und suchte vielleicht auch jenes rhetorische Pathos, das er in der Gattung Oper für unverzichtbar halten mochte. Dieses Bedürfnis könnte auch ein Antrieb bei der librettistischen Zuarbeit Ingeborg Bachmanns bei anderen Werken gewesen sein, die als genuine Lyrikerin ihre Worte ebenso beschwerte wie Auden.

Daß ein solcher Geniekult damals wohl nur mehr in einer Sicht von außen möglich war, liegt an dem durch die Kriegsniederlagen erzwungenen Perspektivenwechsel in der deutschen Kultur. Dichter wie die von Auden zitierten St. George und H. v. Hofmannsthal gelten mit ihrem Ästhetizismus und Konservatismus bereits als untauglich, einer orientierungsbedürftigen Moderne als Vorbild zu dienen, und G. Hauptmann, den man am ehesten mit Mittenhofer ineins setzen könnte, ist durch seine faschismusfreundliche Haltung diskreditiert. Auden hatte hingegen den 1939 verstorbenen W.B. Yeats im Blick und ihm auch eine eigene Elegie gewidmet. Man erkennt sofort die weltanschaulich völlig anderen Proportionen der englischen Literaturgeschichte. Dies dürfte auch der tiefere, unbewußte Grund für die Behauptung von Doundou Tchil in seiner Rezension vom 25. April 2010 sein, Henzes Elegie sei die größte englische Oper, die nicht von Britten stamme. Sie sei zwar von einem Deutschen komponiert, "but it's about Britten and Britain and deserves far more British interest than it gets." Der allerdings nun wieder hierzulande unbekannte Gesichtspunkt dabei: "Mittenhofer is Auden's attack on Britten, where it hurts." (http://classical-iconoclast.blogspot.de/).

Zweifellos herrschte in den 50er Jahren in Deutschlands beiden Teilen ein Verlangen nach wirkendem Wort und dichterisch-seherischer Welterklärung, wie sie in der Philosophie ja auch Heidegger erfolgreich betrieb. Audens Blick auf Mitteleuropa wirkt dennoch peinlich unangemessen, ähnlich wie sich der angelsächsische Tourismus an Kuckucksuhren aus dem Schwarzwald, Alt-Heidelberg, dem österreichischen Alpenhotel und dem münchner Oktoberfest zu ergötzen pflegt. Den jeweiligen Einheimischen kommt das alles geschmacklos und belanglos vor.

Man war ja auch schon viel weiter. Das hätte sich Henze bei der Stoffwahl schon klarmachen können. Wie Alban Berg mit Wedekinds Worten in der Lulu das Geschlechterverhältnis auseinandernimmt, steht turmhoch über der windelweichen und kitschigen Sentimentalität und literarischen Selbstbespiegelung der Elegie, leider auch musikalisch. Henzes Musik, die man wohlwollend sophisticated ("orchestrally, it's extremely sophisticated" a.a.O.) genannt hat, genügt zwar dem Libretto, aber das heißt eben nicht viel. Am Ende färbt die Kunstgewerblichkeit des Textes auf die Musik ab, die mit der beschränkten Anzahl der Musiker jedoch größtmögliche Farbenvielfalt erzeugt.

Der Engländer Auden ist auch insofern nicht auf der Höhe der Zeit, als er zum zentralen Handlungselement des ersten Aktes die aus dem Bergwerk zu Falun bekannte Geschichte macht - neu vielleicht für die englische Literatur, der deutschen aber seit J.P. Hebel und Hofmannsthal genügend bekannt. Das Motiv nimmt sich dann ungefähr wie die Brainstorming-Frage aus: was fällt uns zu Alpengletscher literarisch ein? Aus deutscher Sicht wirkt das Motiv etwa wie die Feststellung, daß Berge Bodenerhebungen sind.

Auden stellt aber noch Übleres mit dem Zitat an, er restauriert Integralität und leugnet den Riß durch die Welt, von dem es erzählt. Während in der originalen Falun-Geschichte Einübung in die Disruption verlangt und ein durch die Zeit verursachter Liebestod statuiert wird, schickt Auden seine Liebenden tatsächlich zum gemeinsamen Liebestod auf den Berg. Er fällt also hinter die Asynchronitätserfahrung und Desillusionierung der Liebe zurück. Er fällt auch dahinter zurück, wie Th. Mann ein Bergsanatorium auf dem Zauberberg zum Zentrum zeitlicher Inkohärenz gemacht und selbst noch, wie Adalbert Stifter in seinen Berg- und Schneeszenarien Schicksal in die Natur projiziert und aus ihr herausgelesen hat.

Er fällt offenkundig auch weit hinter die psychologische Schärfe zurück, mit der Arthur Schnitzler die Geschlechterdifferenz beschrieben hat. Audens Maschinerie, diese tödliche Konstellation herzustellen, ist nicht mehr als trübes Gebräu. Elisabeth ist nicht nur Mittenhofers Sekretärin, sondern auch seine Mätresse und verliebt sich sozusagen nur altershalber in Toni, den Sohn des Arztes Dr. Rauschmann. Nach einer Phase von Mittenhofers Eifersucht auf den Jüngling gibt dieser Elisabeth frei, die sich inzwischen jedoch für ihn, den prestigeträchtigen Vaterersatz entschieden hat, so daß auch noch ein Sekundärkonflikt um den sich auch von ihr betrogen fühlenden Toni an den Haaren herbeigezogen wird. Daß Mittenhofer das Liebespaar freudianisch bewußt-unbewußt in den Tod schickt, ist zwar offensichtlich, wird aber in seiner dämonischen Größe überhaupt nicht handlungsrelevant. Da ist Auden dann wieder viel zu flachländisch englisch, pragmatisch. Der Vorwand, ein Edelweiß zur Inspiration holen zu lassen, ist schlicht hanebüchen.

Wenn Auden im dritten Akt allen Ernstes Mittenhofer die Elegie als gelungene und wertvolle Frucht der stattgehabten Ereignisse verkünden oder vielmehr ankündigen läßt, übersieht er außerdem, daß in der österreichischen Literatur seit dem Fin de siecle bei jeder dichterischen Verlautbarung immer auch Lord Chandos mit am Tisch sitzt. Ein gültiges Wort ist nicht bloß von Stimmungsschwankungen eines Verbaljongleurs oder Rhetorikakrobaten abhängig, sondern intrinsisch in Frage gestellt. Henze hätte an dieser Stelle auch musikalisch Verdacht schöpfen müssen, denn die Frage nach der wahren Musik(dramatik) hat ja schon R. Strauss in seiner Ariadne gestellt. Daß sich Henze der potenziell selbstzerstörerischen Aufgabe, ein Geschmacksmuster für Idealität zu liefern, nicht entzogen hat, ist zwar mutig, doch ist zu befürchten, daß er das Harfengeklimper, mit dem er Mittenhofers Verse in Anspielung an Orpheus unterlegt, ernst meint. Schon Wagner war ja bei seiner Nötigung, Musik als ihr eigenes Paradigma zu schreiben, mit Walters Preislied in den Meistersingern, merklich in die Banalität gerutscht.

Weder Libretto, noch Musik werden dem Eros in seiner behaupteten anthropologischen Unbedingtheit gerecht. Vielleicht ist man auf der Opernbühne vom Tristan und Puccinis Liebestragödien, Boheme, Tosca, Manon Lescaut, verwöhnt oder verdorben, aber die Konstellation in der Elegie ist einfach viel zu fade. Hier spricht die Einstellung: man könnte ja mal. Die Konventionsehe war noch gültig, die Hindernisse zur Liebesehe aber schon unglaubwürdig, und die Jugend als eigenständige, eigenwertige Lebensphase noch nicht entdeckt/erfunden.

Christiane Pohles kühle Regie trägt dem durchaus Rechnung, indem sie die Personen in Anzügen und Kleidern der 50er erscheinen läßt. Ein bißchen mehr Plüsch statt der nackten Brandmauerinstallationen und dem Aufzugkäfig als Zweitraum hätte aber nicht geschadet.

Von Funktionalität kann jedenfalls bei Auden keine Rede sein. Sein nachexpressionistisches Pathos und seine lyrische Verdichtung sind keine Tugenden für ein Libretto. Die Worte sind hier nicht, wie etwa in Büchner/Bergs Woyzeck/Wozzeck, verdichtetes Leben, sondern verdichtete Lebensferne. Die Lebensuntauglichkeit des Dichters und die Unpoetisierbarkeit des Lebens sind dann doch ein zu geringer Ertrag für eine solch alpine Anstrengung.

Die Besetzung des Abends mit dem Opernstudio der Bayerischen Staatsoper ist naturgemäß etwas zu jugendlich ausgefallen, stimmlich jedoch vorzüglich disponiert, Tim Kuypers als häßlich legerer Gregor Mittenhofer, Rafał Pawnuk als anzugsteifer und auch moralisch rigider Dr. Wilhelm Reischmann, Dean Power als sein allzu braver Sohn Toni Reischmann. Die Frauen Golda Schultz als Elisabeth Yulia Sokolik als Carolina Gräfin von Kirchstetten und Iulia Maria Dan als Hilda Mack klangen einander irritierend ähnlich. Engagiert am Pult Francesco Angelico.